© COPYRIGHT DIETER HAGER 2022 Letzte Aktualisierung 22. Dezember 2022
Konzeptionelle Kompetenz

Individuelle Rationalität

Die philosophische Dimension der Konzeptionellen Kompetenz

Individuelle Rationalität ist die kritische Prüfung von Information auf Relevanz, Neuheit, Logik, Informationsgehalt, empirische Richtigkeit und normative Begründung. Im Kontext moderner Lebensführung richtet sich diese metakognitive Aktivität nicht nur auf die Kontrolle sachlicher Daten, sondern ebenso auf die Prüfung eigener Annahmen, Interpretationen und Bewertungen. Rationalität im letzteren Sinne ist damit eine Form der vernünftigen Selbstreflexion, bei der die individuelle Sicht auf Lebensum- stände, Mitmen-schen und das Selbst hinterfragt und weiterentwickelt wird. Kritische Prüfung eigener Philosophien ist vor allem in den Situationen angezeigt, in denen wichtige Ziele auf dem Spiel stehen oder die unangemessene Gefühle wie. z.B. Angst oder Feindseligkeit auf den Plan rufen. In solchen Fällen besteht das Risiko, dass irrationale bzw. dysfunktionale Denkweisen ins Spiel kommen, die kurz- oder langfristig auf Abwege führen. Rationale Selbstprüfung stellt somit die geistigen, emotionalen und verhaltensmäßigen Grundlagen für die Entwicklung und Um- setzung von Innovationsideen, Visionen und Unternehmenszielen als auch neuen Lebensstrategien sicher.

Denken schafft Wirklichkeit

Vorliegende Überlegungen zur Rationalität menschlichen Hadelns beruhen wesentlich auf der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), insbesondere in der Form der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT) von Albert Ellis. Ellis zufolge sind es nicht die jeweiligen Umstände oder Ereignisse, die den Aus- schlag geben, wie sich ein Mensch fühlt und verhält, sondern die Gedanken dieser Person über ihre Situation. Bei der Entwicklung seines Therapiekonzep- tes stützte sich Ellis auch auf die Stoische Philosophie. Bekannt ist insbesondere das "ABC-Modell", mit dem Ellis menschliche Emo- tionen und Verhaltensweisen erklärt. Im Hinblick auf Lebensführung bedeutet dies: Der Punkt A („Aktivierendes Ereignis“) dieses Modells bezieht sich auf all die- jenigen Situationen, Umstände, Ereignisse und Erfahrungen, mit denen der eine Person konfrontiert ist und über die sie nur begrenzte oder überhaupt keine Kontrolle hat. Dies ist, sofern jemand noch berufstätigkeit ist, beispielsweise das Verhalten von Mitarbeitern, Kollegen, Vorgesetzten, die Art und Weise, wie Kunden auf- treten, die Aktivitäten der Mitbewerber, die Nachfrage nach den Produkten des Unternehmens, die Aktivitäten des Gesetzgebers usw. Bei einem im Ruhestand befindlichen Senior können die gesundheitliche Ver- fassung, der Verlust des beruflichen Status oder das Fehlen klarer Rollener- wartungen emotional relevante Aktivierende Ereignisse darstellen.
Der Punkt B („Interpretation und Bewertungen“) umfasst die Gedanken und Vorstellungen, die der Senior dem Ereignis am Punkt A selbst entgegenbringt. Also das, was er sich über die Dinge sagt, die Ihm bei A begegnen. Der Punkt C („Emotionale Konsequenzen“) beschreibt die Gefühle und das Verhalten als Folge daraus, wie die Person am Punkt B über ein bestimmtes Ereignis denkt. Hinzu kommt der rückwirkende Einfluss des Verhaltens auf die Ausgangssituation. Das eige- ne Denken schafft somit einen Teil der inneren und äußeren Lebens- und Erlebniswelt.

Rationalität ist zielführend

Rationalität hilft, die grundlegenden Ziele im Leben zu erreichen. Sie stützt sich auf überprüfte Fakten, Logik und realistische Er- wartungen an sich selbst, an andere Menschen und an die Lebensumstände. Des Weiteren ist Rationalität mit angemessen star- ken und hilfreichen Emotionen negativer wie positiver Art und mit zielführendem Verhalten verbunden. Eine angemessen nega- tive Emotion wie beispielsweise Besorgnis kann ein starker Motivator für vorbeugendes Handeln sein. Angst oder Panik hingegen wirken sich in der Regel lähmend auf das Verhalten aus und können insofern als unangemessen bezeichnet werden. Die langfristige Wirkung des Handelns auf die Lebensumstände hängt nach meiner Auffassung davon ab, inwieweit das zugrun- deliegende Denken außer den Naturgesetzen auch die Prinzipien der Lebensführung berücksichtigt, die man langfristig nicht durchbrechen kann. Wie es Cecil de Mille in seinem Monumentalfilm Die zehn Gebote 1956 formulierte: "Wir können unmöglich das Gesetz brechen. Wir können nur am Gesetz zerbrechen." Diese Prinzipien haben sich in der Geschichte der menschlichen Zivilisation immer wieder offenbart. Sie bilden die Grundlage persönlicher Entwicklung und jedweder menschlichen Gemeinschaft, die wächst und gedeiht. Wie gut die Menschen in einer Gesellschaft sie erkennen und im Einklang mit ihnen leben, bestimmt darüber, ob sie nachhaltig und in ihrem eigenen wohlver- standenen Interesse erfolgreich sind. Die hier in Rede stehenden Prinzipien wie Fairness, Ehrlichkeit, Menschenwürde u.a. sind keine esoterischen oder religiösen Kon- zepte. Vielmehr sind sie Grundlage fast jeder Menschheitsreligion, fundierten Sozialphilosophie und weltlichen Ethik. Der US- amerikanische Autor und Hochschulprofessor Stephen R. Covey schreibt hierzu: "Es ist beinahe so, als seien diese Prinzipien oder natürlichen Gesetze Teil der Conditio Humana, des menschlichen Bewusstseins, des menschlichen Gewissens. Sei scheinen in allen Menschen vorhanden zu sein, unabhängig von der sozialen Konditionierung und auch wenn sie manchmal unterdrückt oder betäubt sein mögen." (Stephen R. Covey: Die sieben Wege zur Effektivität. GABAL 2009).

Dysfunktionales Denken

Dysfunktionales Denken ruft blockierende Gefühle und zielhinderliches Verhalten hervor. Diese Art zu denken tritt in einer be- schreibenden und einer wertenden Form auf. Die beschreibende Form beruht auf einseitiger Wahrnehmung und Interpretation. Die wertende Form auf kategorischen Forderungen an die Wirklichkeit, .
Bild; © Daniel Tibi / PIXELIO Mark Aurel (* 121 in Rom; † 180 in Vindobona oder Sirmi- um) war von 161 bis 180 römischer Kaiser und als Philo- soph der letzte bedeutende Vertreter der jüngeren Stoa. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte Mark Aurel vorwie- gend im Feldlager. Hier verfasste er die Selbstbetrachtun- gen, durch die er als Philosophenkaiser in die Geschichte einging.

Kategorische Forderungen an sich selbst

„Ich muß bei den Dingen, die ich tue, erfolgreich sein (bzw. perfekt) und muß die Anerkennung und Wertschätzung der Menschen haben, die ich als für mich wichtig ansehe.“ Dieses muß-turbatorische Denken, das bei nahezu allen Tätigkeiten und in fast allen Situationen auftreten kann, führt häufig „automatisch“ zu folgenden absoluten Bewertungen: „Wie furchtbar, wenn ich keinen Erfolg habe bzw. nicht anerkannt werde!“ „Es ist nicht auszuhalten, wenn es mir nicht gelingt, Erfolg zu haben und Anerkennung zu bekommen!“ „Ich bin nichts wert, wenn ich nicht erfolgreich handele und mir die Wertschätzung der anderen sichere!“ Die emotionalen Konsequenzen daraus: Aufgrund dieses muß-turbatorischen Denkens stellen sich immer dann, wenn im Leben etwas entgegen unseren Forderungen an uns selbst läuft, starke Gefühle der Angst und Panik und/oder zwangshaftes Besorgtsein ein. Depressive Stimmungen, Selbsthaß, Schuldgefühle folgen, wenn wir nicht den Erfolg haben, denn wir glauben, haben zu müssen.

Kategorische Forderungen an andere Menschen

„Die Menschen, mit denen ich Kontakt habe, müssen mich freundlich und fair behandeln; wenn sie das aber nicht tun, so muß man sie dafür zur Verantwortung ziehen bzw. sie bestrafen oder ernsthaft verurteilen und verdammen.“ Daraus ergeben sich drei absolute Bewertungen, die häufig unbewußt erfolgen: „Es ist schrecklich, wenn du mich weniger freundlich oder fair behandelst, als du es solltest!“ „Es ist nicht zu ertragen, wenn du mich so schlecht oder unfair behandelst, wie du es doch auf keinen Fall dürftest!“ „Du bist ein ausgesprochen schlechter Mensch, wenn dumich weniger freundlich oder fair behandelst, als du solltest!“ Die emotionalen Konsequenzen daraus: Aus dieser dysfunktionalen Denkgewohnheit resultieren fast immer Wut- und Ärgergefühle, Überreaktionen und ständiges Auf- begehren, was sogar aggressive Handlungen verschiedenster Art auslösen kann.

Kategorische Forderungen an die Lebensumstände

„Die Umstände, unter denen ich lebe, müssen so sein, daß ich alles, was ich mir wünsche, schnell, leicht und angenehm erreiche; Schwierigkeiten und Hindernisse dürfen nicht auftreten.“ Dies ist häufig mit folgenden drei Bewertungen verbunden: „Es ist eine Katastrophe, wenn die äußeren Umstände so beschaffen sind, daß ich etwas sehr entbehren muß oder weniger bekomme, als ich mir wünsche, oder daß ich zu lange und zu hart daran arbeiten muß, damit meine Wünsche sich erfüllen!“ „Ich kann ein Leben nicht ertragen, das mir mehr abverlangt als ich geben will; denn das ist nicht nur hart, sondern zu hart; so hart sollte es nicht sein!“ „Mein Leben ist elend und kläglich, wenn die Dinge falsch laufen und ich nicht genau das erreiche, was ich will, wann immer ich es will! Es ist geradezu so unerträglich, daß es nicht lebenswert ist!“ Die emotionalen Konsequenzen daraus: Dieses irrationale Denkmuster führt fast unvermeidlich zu Selbstmitleid, Depression, Apathie und geringer Frustrationstoleranz. Auf der Verhaltensseite entsprechen diesen Gefühlen Rückzugstendenzen, Vermeidungsverhalten, Passivität und Entschlußlosig- keit.

Egozentrik in Führung und Management

Psychologischen Studien zufolge ist Egozentrik überdurchschnittlich oft in den Führungsetagen von Unternehmenzu finden (Paul Babiak & Robert D. Hare: Menschenschinder oder Manager: Psychopathen bei der Arbeit. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG 2007). Der britische Psychologe Kevin Duttonfand heraus, das psychopathische Merkmale in folgenden Berufsgruppen besonders stark vertreten sind: Vorstandsvorsitzende, Anwälte, Rundfunkjournalisten, Verkäufer, Chirurgen. Auch Geistliche und Beamte waren unter den ersten zehn. (Kevin Dutton: Psychopathen. Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann. dtv Verlagsgesellschaft 2014). Nassir Ghaemi, Psychiatrieprofessor in Boston, geht davon aus, dass etliche große Karrieren in Politik, Militär und Wirtschaft ohne psychische Krankheitsschübe anders verlaufen wären (Nassir Ghaemi: A First-Rate Madness: Uncovering the Links Between Leadership and Mental Illness. Penguin 2013). Eine Erklärung für diese Befunde ist, dass in einer kompetitiven und auf kurzfristige Gewinne ausgerichteten Geschäftswelt Ego- zentriker leichter nach oben gelangen. Die Kombination aus mangelnder Empathie und fehlender Angst vor den Folgen des eige- nen Handelns kann einem Menschen enorme Durchsetzungskraft verleihen. Egozentriker verfügen über Eigenschaften, die im Beruf äußerst wirksam sein können: Sie halten sich für grandios, verhalten sich charmant, kennen weder Skrupel noch Reue oder Angst, scheuen kein Risiko und wissen, wie man andere geschickt für seine Zwecke einsetzt ( Kerstin Bund & Marcus Rohwetter: Irre erfolgreich: Wahnsinns-Typen. Wie gestört muss man sein, um Besonderes zu leisten? Erstaunlich viele Chefs sind psychisch auffällig. In: DIE ZEIT Nr. 34/2013).

Überprüfung des Denkens in der Erntephase des Lebens

Denkweisen, die für beruflichen Aufstieg und Erfolg vorteilhaft sein können, erweisen sich in der Zeit danach häufig als Hindernis für eine produktive, sinnvolle und an den Möglichkeiten der neuen Situation angepasste Lebensführung. Gerade das Denken erfolgreicher Führungskräfte wird mitunter bestimmt von kategorischen Forderungen und absoluten Bewertungen wie: „Ich beherrsche Dinge, die andere Menschen nicht beherrschen. Hierfür verdiene ich es, dass man sich mir unterordnet. Aufgrund meiner herausragenden Eigenschaften bin ich wertvoller als andere Menschen.“ „Würde ich keine überlegenen Qualitäten besitzen, wäre ich ein wertloser Nobody. Wenn ich nichts besonderes leiste, kann ich mich selbst auch nicht wertschätzen.“ „Um mich selbst akzeptieren und respektieren zu können, muss ich beweisen, dass ich wirklichen Wert besitze. Wert als Mensch kommt mir dann zu, wenn ich kompetent handle, über herausragende Fähigkeiten verfüge und andere Menschen mich anerkennen.“

Sokratischer Dialog

Der sokratische Dialog ist eine philosophisch-wissenschaftliche Form der Gesprächsführung, die den Gesprächspartner dabei unterstützt, aus eigener Kraft übernommene Normen, Meinungen und Urteile zu überprüfen und neue individuelle zielführende Überzeugungen zu entwickeln. Grundlage sind dabei die von Sokrates selbst überlieferten Fragetechniken, die Lehrgespräche der Stoiker als auch die empirisch-logischen Disputationsmethoden der modernen Kognitiven Verhaltenstherapie, insbesondere der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie von Albert Ellis. In seiner philosophischen Lehrtätigkeit beschäftigte sich Sokrates vorrangig mit hergebrachten Mythen, politischen Tugenden und mit Grundfragen der Polis- und Rechtsordnung. Für den Stoiker hingegen galt es, seinen Platz in der universellen Ordnung zu erkennen, sein Los zu akzeptieren, emotionale Selbstbeherrschung zu praktizieren und mit Hilfe von Weisheit nach Gelassen- heit und Seelenruhe zu streben. Über Immanuel Kant und dessen Wertschätzung von Sokrates zieht sich eine Traditionslinie des kritisch-rationalen Denkens bis zu Karl Popper ins 20. Jahrhundert. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt stützte sich in politischen Krisensituationen auf den sogenannten Philosophen auf dem Kaiserhtron, den Stoiker Marc Aurel. Sein grundlegendes Politikverständnis gründete er auf den Kritischen Rationalismus von Karl Popper.‘‘ Der Sokaratische Dialog ist für Themen geeignet, die in der Erntephase des Lebens von besonderem Intersse sind: Eigene Wertvorstellungen prüfen und neu bestimmen Existenzielle Entscheidungen verantwortlich treffen Innere Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wahren Sinnvolles Engagement Gelassenheit in Krisen- und Grenzsituationen Offener und partnerschaftlicher Dialog

Literaturtipps zur Selbstreflexion

Aufgrund der wissenschaftlichen Fundierung, der Verständlichkeit der Darstellung und der praxisbezogenen Ausrichtung eignen sich die Publikationen der KVT/REVT auch hervorragend als Hilfe zur Selbstreflexion für den interessierten Laien. Deshalb folgen- de Literaturempfehlungen:

Grundlagenbuch des Urhebers der Rational-Emotiven Verhaltentherapie:

Albert Ellis: Grundlagen und Methoden der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie. Klett-Cotta 1997.

Zwei allgemeine Selbsthilfebücher:

Albert Ellis & Robert A. Harper: A Guide to Rational Living. Wilshire Book Company 1975. Dieter Schwartz: Vernunft und Emotion: Die Ellis-Methode - Vernunft einsetzen, sich gut fühlen, mehr im Leben erreichen. borgmann publishing 2018. Weitere seriöse Selbsthilfeliteratur zu Einzelthemen auf der Grundlage von KVT und REVT findet sich im PAL-Verlag.